Sonntag in Vikaspuri

Nach einer größtenteils durchwachten Nacht fühle ich mich eigentlich wenig imstande, selbst die Erinnerungen der letzten Tage zu sortieren. Vom vergangenen Regen ist  keine Spur mehr zu sehen. Es ist heiß (laut Internet 31 Grad, “Feels like 37°”) und während der Nacht dröhnen Deckenventilator und die Lüftung der Klimaanlage, deren Kühlung wir aus Energiespar- und Lärmgründen ausgeschaltet lassen. Frische Luft kommt trotzdem nicht ins Zimmer, dafür aber winzige Stechmücken, deren Gelächter über unsere wirkungslosen Sprays und Abwehrcremes ich mir gut vorstellen kann.

Ich sitze auf dem Balkon, ein paar Meter über dem Gehupe, hin und wieder streicht ein angenehmer Luftzug über meine Arme. Meine Kollegen sind unterwegs in Agra und beim Chefredakteur von Mizzima, Soe Myint, um dort bei der Erstellung einer Radiosendung zuzusehen. Heute Nachmittag werde ich den beiden Redakteuren von Matu Harold News helfen, ihnen eine simple Webpräsenz aufzubauen. Momentan verbreiten sie ihre Zeitung nur als kopierte Exemplare kostenlos an die Matu-Gemeinschaft in Delhi, und per PDF an die Abonnenten einer Newsgroup, was etwa 4000 Empfänger ausmacht, ein paar gedruckte Exemplare gehen ins westliche Ausland.

Allgemein beschränken sich Computerkenntnisse zumeist auf E-Mails und eventuell Internettelefonie. Es ist interessant, dass Online- sehr viel geläufiger sind als Offline-Technologien, obwohl sich erstere viel später entwickelt haben und auf letzteren basieren. Ganz simple Büroanwendungen werden oft nur unzureichend beherrscht. Gestern habe ich dem Team vom Chin Refgugee Committee einen Crash Course in Excel verpasst, wobei die Teilnehmer zum Glück sehr lernwillig waren und schnell selbst nachvollziehen konnten, was sie neu gelernt hatten.

Entwicklungshilfe heißt hier nicht, Brunnen zu bohren oder Sonnenkollektoren einzufliegen (vermutlich jedesmal aus heimischer Produktion – mit gewolltem positiven Nebeneffekt für die eigenen Firmen? Manchmal frage ich mich wirklich, ob Entwicklungshilfe mehr ökonomisch und strategisch oder ob sie wirklich humanitär motiviert ist). Die Situation ist völlig anders als in irgendwelchen sehr ländlichen, von “Zivilisation” ganz unberührten Regionen der Welt. Hier gibt es alle paar Straßen einen Computerladen. Die Computerisierung Indiens boomt. In den Statistiken fallen die Rikscha-Fahrer und andere Tagelöhner wohl gar nicht so sehr ins Gewicht. Es reicht, wenn 10 oder 20 Prozent der Bevölkerung mit geballter Leistung alle Schwachstellen verdecken.

Die Flüchtlinge hier jedoch leben in einer völlig anderen Welt, wo ihre Mitglieder einander viel näher sind. Eine praktische Ausbildung dieser Menschen kann ohne große Mühe punktuell weiter entwickelt werden, das Wissen wird mit Freunden und Bekannte geteilt, es bilden sich soziale Strukturen um Personen mit erweiterten Fähigkeiten, wie Interessengruppen und Initiativen. Herausragende Individuen werden dann irgendwann vom UNHCR in den Westen übersiedelt, wo sie zunächst wieder unterdurchschnittlich qualifiziert sind, aber zumindest materiell und rechtlich abgesichert sind. Hier in der Flüchtlingsgemeinschaft rücken andere in die Lücken nach. Manchmal sind es Leute, die einen Posten lediglich seines Ansehens willen erstreben und dazu ihre gesellschaftliche Position und wenige Fähigkeiten einbringen. Nicht alle sozialen Mechanismen in der Flüchtlingsgemeinschaft haben sich mit Blick auf Qualitätssteigerung entwickelt.

Insgesamt bin ich beeindruckt von dem, was sich aus einer eigenen Dynamik und unter Ausnutzung der örtlichen Gegebenheiten entwickelt. Gäbe es nicht die bewusste Benachteiligung der Flüchtlinge durch die hiesige Mehrheitsgesellschaft, dann wäre sicher auch keine westliche Hilfe nötig und die Flüchtlinge könnten hier leben, bis  sie einmal nach Burma zurück kehren können.

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