Ein Trauma aus dem Wartesaal

Ich sitze in einem Hubschrauber. Während ich schreibe höre ich dicht über mir das scharfe Schnappen der Rotoren in der Abendluft, gleichmäßig, beharrlich, wie um mich wach zu halten. So stelle ich ihn mir vor. Den Flug über die Grenze in der Nacht, in die Berge der Chin. Zurück in die Heimat derjenigen die seit fünf oder zehn Jahren nur in ihren Erinnerungen zurück kehren, in den Erzählungen der Neuankömmlinge. Und selbst hier träumen sie nur davon, weiter voran zu kommen, weg aus dieser Stadt, in der sich Armut mit einem ganz besonderen Ausgeliefertsein vereint.

Was ich mir bei all dem ausgedacht habe, ist nur der Flug im Hubschrauber. Selbst  der Rotor ist überraschend real. Er wirbelt laut und bedrohlich über meinem Kopf, einer der vielen Deckenventilatoren hier in unserer Pension, einem Stück Erste Welt nicht weit von den Slums.

Der Raum, stark erhellt vom Blitz.

Ich habe in meinem umzugsreichen Leben schon so manchen Ärger mit Vermietern erlebt und weiß, wie wichtig es ist, in seinen eigenen vier Wänden  Ruhe zu haben. Umso mehr empören mich diese zwei Fälle von aggressiv keifenden Vermieterinnen, ältere Inderinnen, die beide Tür an Tür mit dem vermieteten Raum wohnen und keinen Besuch für ihre Mieter wünschen. Mieter: Das ist eine junge Witwe, die, ganz wörtlich, sehr viel am eigenen Leib hat erleiden müssen, ich muss nicht berichten was. Sie lebt hier mit drei kleinen Kindern. Sie ist krank, das Gesicht schweißbedeckt. Ihr Raum: Vielleicht zwei mal drei Meter groß, völlig dunkel die Wände, vielleicht von Alter, Ruß oder dergleichen. Die Tür liegt ebenerdig zur schmutzigen Gasse hin. Momentan trennt diese vom Raum nur ein dünner Vorhang.

Die junge Frau wirkt apathisch, nickt auf Fragen, hält eines ihrer Kinder, während ein ganz kleines lustlos auf der Gasse hin und her läuft. Mir fällt auf, dass sie völlig anders als Burmesen nicht lächelt, ja kaum ihre Gesichtszüge bewegt. Hoffentlich wird sie das Lächeln wieder erlernen.

"... und mein Kopf fühlt sich heiß an."

Dann eine kleine Praxis, eine von zweien für burmesische Flüchtlinge,in der riesigen Stadt. Für Flüchtlinge heißt das, dass sie hier nicht tausende von Rupees bezahlen müssen und als Opfer eines Überfalls nicht abgewiesen werden. Hier wird nicht operiert, nur untersucht, Medikamente ausgegeben, Nachbehandlung nach Geburten durchgeführt. Die andere Praxis bietet mehr, bis hin zu Amputationen, aber ebenfalls nur ambulant. Beide behandeln die Flüchtlinge kostenlos. Zu dieser zweiten Praxis nun kommen  um die 15 bis 20 Patienten pro Tag und werden von einer Krankenschwester mit Hilfe einer jungen Übersetzerin versorgt. Die vielen fremdartigen Besucher sind natürlich auch der Vermieterin nicht entgangen, die, als sie uns westliche Besucher sieht, sogleich ihren Kopf zur Praxis hineinsteckt und die Miete von 3000 auf 3500 Rupees erhöht. Das ist besonders schmerzlich, da die Frauen, die sie betreiben, bereits ihr Geld für Medikamente verbraucht haben und auf die findige Idee gekommen ist, einen Laden zu eröffnen, in dem sie selbstgekochtes Essen verkaufen.

Aber wo es kein Recht gibt – und Indien ist für die Flüchtlinge hier ganz offenkundig kein Rechtsstaat – da herrscht das Recht des Stärkeren. Flüchtlinge, die hier mit Sack und Pack und leeren Taschen ankommen, zahlen von vorneherein höhere Preise, für Miete und auch anderswo.

Beim Chin Human Rights Committee erzählt man uns von den Fällen, die sie vertreten. Opfer sind in den meisten Fällen Frauen und junge Mädchen. Die Organisation beschäftigt zwei Frauen, die ihnen zuhören können und versuchen zu helfen, so weit es in der Macht von  Helfern steht, die selbst nur Flüchtlinge sind. Übergriffe, wie etwa dass indische Männer im Vorübergehen den Flüchtlingsfrauen an den Busen greifen, sind so geläufig, dass sie gar nicht erst berichtet oder einzeln erfasst werden. “Welche Kaste hat die indische Gesellschaft für Flüchtlinge vorgesehen?” frage ich mich oft.

Der Weg aus diesem erniedrigenden und entbehrungsreichen Leben führt durch das Zauberwort “Resettlement”: Umsiedlung in ein Drittland, wo es Geld gibt und Flüchtlinge wie menschenwürdig leben können. Resettlement ist für die Flüchtlinge wie ein kühner Traum, in gewisser Hinsicht  ein verheißungsvolles Jenseits. Es entstehen übersteigerte Erwartungen, die kaum erfüllt werden. Der Kulturschock und der Erwartungsdruck an die Verwandten, die es ins “Paradies” geschafft haben, sind enorm. Viele Flüchtlinge vereinsamen im Westen, kommen nicht mit der  regulierten Arbeits- und Nutzlosigkeit zurecht, einige drehen regelrecht durch oder verfallen dem Alkohol. Sie scheitern gewissermaßen, nachdem sie schon die Ziellinie durchlaufen haben.

Von den 7000 burmesischen Flüchtlingen in Delhi werden jedes Jahr nur rund 1% übersiedelt – eine unwahrscheinlich geringe Quote. Mich erinnert es an einen Lottogewinn. Die Zahl der Flüchtlinge steigt dabei rapide, bis zum Jahresende werden es um die 10000 sein. Manche warten nur ein Jahr, manche viele Jahre, und rein rechnerisch dürfte der Großteil der Flüchtlinge für immer warten. Resettlement ist ein magischer Hoffnungsschimmer, ein schmerzlich fernes Ziel, und oft dann eine kalte Dusche. Es ist schwer verständlich, dass diese Menschen, die so viel durchgemacht haben, nun noch enttäuscht werden können. Analphabeten, deren Qualifikation im Reisanbau und primitiver Haushaltsführung besteht, können nun nicht einfach als Landwirt anfangen, wenn sie nicht einmal wissen, wie man einen Linienbus benutzt oder dass Abschlagszahlungen für Strom und Wasser am Jahresende mit den tatsächlichen Kosten verrechnet werden, dass es also keinen Sinn hat, an ihnen zu sparen.

Ich muss sagen, dass mich diese geballte Ladung an Eindrücken aus einem bestürzend verlorenen Teil der Menschheit, der mitten in New Delhi im Incredible India zwischen all dem Lärm und Getöse, der reichen Kultur und den politischen Ambitionen still und schüchtern leidet, ganz extrem mitnimmt. Mir fällt ein, wie man so schön sagt: Es trifft immer die Falschen.

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